Mit dem, was ich alles vor unserem Umzug nach Kambodscha in Thailand erlebt habe, könnte ich ein ganzes Buch füllen. Zurückblickend war das Ganze für mich ein über 8 Jahre andauerndes Abenteuer gewesen. Beim letzten Mal habe ich ja darüber berichtet, wie ich in einem kleinen buddhistischen Kloster als Novize gelandet bin. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon etwa seit 2 Jahren in Thailand gewesen und hatte bereits so einiges erlebt, was ich vorher in Deutschland nur aus dem Fernsehen kannte.
Eines dieser Erlebnisse trug sich in einer tropisch schwülen Nacht in einer Dorf-Karaoke zu. Dafür müssen wir zurück in das Jahr 2000 gehen, als meine Frau und ich noch ein Restaurant betrieben haben. Der Laden, ein offenes pavillionartiges Gebäude aus Holz, stand auf einem kleinen Grundstück an der zur damaligen Zeit einzigen asphaltierten Straße der Insel. Dahinter befand sich eine Cashew Nuss Plantage und ansonsten war alles mehr oder weniger um uns herum Dschungel. Wir wohnten in einer kleinen Hütte auf Stelzen mit Strohdach, die gleich hinter dem Restaurant stand.
Neben uns befand sich die verwahrloste Hütte einer älteren Frau, die von der Schwarzbrennerei lebte. Sie stellte ihren Fusel aus den Cashewfrüchten der Plantage her und versorgte damit die gesamte Gegend. Schon morgens um 05:00 Uhr kamen die Ersten, um sich ihr „Frühstück“ abzuholen. Abgefüllt bekam man den Obstbrand aus einem verbeulten Aluminium Kessel in eine mit einem Gummi verschlossene Plastiktüte oder in eine leere Plastikwasserflasche, wenn man sie mitbrachte. Eine Ration, also der Inhalt einer kleinen Wasserflasche, kostete 25 Baht (etwa 0,64 Euro).
Auf der anderen Seite des Restaurants wohnte in einer ebenso verwahrlosten Hütte ein Ehepaar, welches einen alten Pick-up Truck besaß. Damit fuhren die beiden jeden Tag die Insel ab, sammelten Plastikmüll ein und verkauften ihn an größere Händler auf dem Festland weiter. Meine Frau und ich pflegten zu allen Leuten im Umkreis ein gutes Verhältnis, sodass ich, wenn ich das wollte, morgens aus dem Haus gehen konnte und abends vollgefressen und sturzbetrunken wieder nach Hause kam, ohne einen Baht ausgegeben zu haben.
Aber wer nehmen kann, der muss auch geben und so besuchte ich am Nachmittag vor der besagten Nacht, bewaffnet mit ein paar großen Flaschen Chang Bier und einer Tüte Selbstgebrannten meine Nachbarn, die Plastiksammler. Der Frau gab ich Geld, damit sie auf dem Markt etwas einkaufen konnte und für uns kochte. Es war ein ganz normal, dass man nachmittags mit Bekannten und Nachbarn zusammensaß, etwas aß, ab und zu auch Exotisches wie Affe und Eichhörnchen und dazu viel trank, meist Selbstgebrannten, aber auch Chin Chun, Mekong und Sam Song. Mal hier, mal dort, mal bei uns im Restaurant.
Wir saßen in der Hütte auf dem Boden und es war schon dunkel geworden. Von draußen drangen die abendlichen Geräusche des Dschungels zu uns herein. Im Tonofen brannte ein offenes Feuer, auf dem die Frau zuvor für uns gekocht hatte. Während des Abends entwickelte sich die Angelegenheit zu einem echten Saufgelage, bei dem die Frau schon frühzeitig auf der Strecke blieb und sich schlafen legte. Ich bin dann noch ein oder zwei Mal zur Schwarzbrennerin rüber und habe ein paar Tüten Nachschub geholt, da hin und wieder auch andere Leute aus der Gegend reinschauten, um mitzutrinken.
Der schmächtige Thai Nachbar brachte kaum noch einen geraden Satz heraus, wollte aber nicht aufgeben. Es war schon weit nach Mitternacht, als er plötzlich die Idee bekam, dass wir noch auf einen Sprung in die Dorf-Karaoke gehen sollten, die sich ein Stück weiter die Straße runter befand. Von minderwertigem Alkohol das Hirn vernebelt, willigte ich ein und somit zogen wir beide mit ordentlicher Schlagseite in die Nacht hinaus, Richtung Karaoke.
Als wir bei dem Laden ankamen, der eigentlich nur aus einem Dach, einer Bar und einer Bühne bestand, erkannte man im schummrigen Licht noch zwei letzte Gäste, die an einem der langen Tische saßen. Einer der beiden, ein Thai mit chinesischen Gesichtszügen, der in einer der Touristen-Bars am Strand arbeitete, erkannte mich und winkte uns rüber an seinen Tisch. Sein Begleiter war mir unbekannt, mir fiel aber auf, dass er einen langen Pferdeschwanz hatte und eine Armeejacke trug.
Wir tranken Bier und übten in einem Mix aus Thai und Englisch betrunkene Konversation. Ich erkannte, dass der Thai mit dem Pferdeschwanz eine Waffe unter seiner Jacke trug, was mich aber nicht besonders beunruhigte, weil viele Leute auf der Insel Waffen besaßen. Mein Nachbar peilte inzwischen offenbar gar nichts mehr und lallte die beiden anderen voll. Ich verstand kein Wort, spürte aber, wie die gute Stimmung am Tisch plötzlich umschlug. Ich kannte den Gesichtsausdruck von betrunkenen Thais, kurz bevor sie aggressiv werden, mittlerweile, und ahnte, dass es nun Ärger geben wird.
Es entstand ein kurzes Wortgefecht, dem ich nicht folgen konnte, worauf der Typ mit dem Pferdeschwanz mit der echten Hand nach der Waffe in seiner Jacke griff. In diesem Moment entschied ich, dass es wohl besser für mich war, schleunigst zu verschwinden. Die Aggressionen der beiden richteten sich zwar ausschließlich gegen meinen Nachbarn, aber bei betrunkenen Thais kann man sich nie sicher sein. Ich stand wortlos und ganz vorsichtig auf, drehte mich um und bewegte mich schleunigst auf den Ausgang zu.
Hinter mir ging das Wortgefecht weiter, ein Stuhl viel um und ich war kaum die Stufen runter, da fiel der erste Schuss. Ich drehte mich nicht um, sondern steuerte weiter zügigen Schrittes in die schützende Dunkelheit hinein in die Richtung zu unserem Restaurant. Als ein zweiter Schuss fiel, war für mich klar gewesen, dass ich gerade einen Nachbarn verloren hatte. In unserer Hütte angekommen fand ich meine Frau schlafend vor. Die Schüsse hatten sie nicht aufgeweckt, denn die Leute gingen nachts oft in den Wäldern jagen, sodass wir uns daran gewöhnt hatten.
Ich legte mich auch hin, und nachdem sich mein Adrenalinpegel wieder gesenkt hatte, konnte ich dank des erheblichen Alkoholpegels endlich einschlafen. Als ich nach einigen Stunden wieder aufwachte, schossen mir als Erstes die Erlebnisse der vergangenen Nacht durch den Kopf. Ich rannte sofort raus und schaute rüber zu seiner Hütte. Noch heftig mitgenommen brauchte ich erst mal eine Weile, um zu begreifen, was ich dort sah. Mein quicklebendiger Nachbar turnte wie gewöhnlich oben auf seinem mit gepressten Plastikflaschen voll beladenen Pick-up rum und winkte mir freundlich lächelnd zu.
Alle Anspannung fiel von mir ab, es würde kein Verhör durch die Polizei geben, weil ich Zeuge war, ich musste mich auch nicht vor Mördern verstecken, die keinen Zeugen wollten, und auch die Frau des Plastiksammlers konnte mir keine Vorwürfe machen, weil ich ihren Mann alleine in der Karaoke zurückgelassen hatte. Etwas später erfuhr ich dann durch meine Frau, dass der erste Schuss zwar auf meinen Nachbarn abgefeuert wurde, ihn aber weit verfehlte. Der zweite Schuss wurde vom Ehemann der Karaoke-Betreiberin abgefeuert. Er ist durch den Lärm wach geworden, aus dem Haus gekommen und hat zur Abschreckung mit seinem Gewehr in die Luft geschossen. Die beiden Angreifer sollen daraufhin die Flucht ergriffen haben.
Niemand hat danach eine Anzeige bei der Polizei erstattet und es wurde auch niemals wieder über den Vorfall in der Karaoke gesprochen. Das Leben ging einfach weiter, als wenn nichts passiert war. Ich bin dadurch jedenfalls wieder um eine Erfahrung reicher geworden und es sollte nicht die Letzte bleiben.